Jens Gerlach |
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Der Artikel von Thorsten
Harmsen hat mich richtig wütend gemacht. Da wird ganz im
schwarz-weiss-Muster längst vergangener Tage behauptet, in der DDR
konnte es ja kein
demokratisches Warnsystem gegen Antisemitismus geben, weil es ein Tabu
war, "über
Juden auch nur zu reden". Ich dachte, wie Präsident Bush
unlängst verkündete, der kalte Krieg wäre vorbei?
Vielleicht haben
das noch nicht alle gemerkt!
Ich bin ebenso wie Herr
Harmsen in der DDR zu Schule gegangen und habe dort gelernt, dass 6
Mio.
Juden von den Nazis in Konzentrationslagern ermordet wurden, dass 20
Mio.
Russen im Krieg gefallen sind und insgesamt 60 Mio. Menschen im 2.
Weltkrieg
ihr Leben lassen mussten. Auch wenn das Geschichtsbild der DDR
kommunistisch
verzerrt war, kann man heute nicht behaupten, es wäre nicht
über
die Judenverfolgung gesprochen worden!
Ich glaube, dass durch die
ideologische Diktatur in der DDR und gleichzeitige Information durch
westliche
Medien, die Menschen sich dort gedanklich (praktisch ging es ja leider
nicht) weit mehr mit Politik auseinandersetzten und sich ihr
eigenständiges
Denken entwickelt haben als mancher im Westen. Anders als in der
Bundesrepublik
wurden aus idoelogischen Gründen in der DDR die Verbrechen des
Staates
Israel jedoch nicht verschwiegen, wodurch sich unter den
DDR-Bürgern
ein sehr zwiespältiges Verhältnis zu Israel entwickelte.
Daraus
resultiert die Tatsache, dass auch heute die Ostdeutschen keine
uneingeschränkte
Solidarität gegenüber Israel empfinden.
So wie man damals in der
DDR seine Meinung nicht laut äußern durfte, fürchten
das
viele auch der in jüngsten Antisemitismusdebatte. Man wird mit
seiner
Meinung zu schnell in die antisemitische Ecke gestellt.
darauf die Antwort
von
Herrn Harmsen:
"Lieber Jens Gerlach,
ich habe im Internet Ihren
Kommentar zu meinem Artikel gelesen. Sie sprechen darin vom
Schwarz-Weiss-Muster
längst vergangener Tage. Vielleicht ist das etwas Wahres dran.
Vielleicht
habe ich in der Auseinandersetzung mit einer Seite die
Widersprüchlichkeit
der anderen Seite vergessen.
Zu meinem Artikel bekomme
ich viele Leserbriefe. Nicht wenige davon stimmen mir zu. Auch die
Redakteure
dieses Hauses sind geteilter Meinung. Einige davon regen sich
mächtig
auf, so wie Sie. Andere, darunter auch ein in der DDR aufgewachsener
Jude,
sagen: Der Artikel sei noch viel zu harmlos.
Die meisten West-Redakteure,
-Autoren usw. finden es interessant, überhaupt erst einmal
über
die Klassenkampf-Sicht in dieser Frage informiert zu werden.
Wie Sie gelesen habe, komme
ich selbst aus Kreisen, in denen vom Faschismus Verfolgte lebten. Mein
Onkel saß acht Jahres lang in Sachsenhausen, und er war dennoch
ein
Israel-Hasser. Auch die kommunistischen Juden, die ich erwähnte,
hatten
sich ganz von ihrer Vergangenheit "kleinbürgerlichen" Judentums
losgesagt.
Den Artikel zu schreiben, fiel mir nicht leicht. Er ist ganz bewusst
als
provozierende Meinung geraten. Und er löst eine Diskussion aus,
wie
ich bemerke.
Ich wollte zeigen, dass
die Hauptauseinandersetzung - über die Mitverantwortung aller
Deutschen
nach Auschwitz - in der DDR von der Klassenkampfthese überdeckt
wurde.
Die Judenverfolgung zu erwähnen, ist das Eine - über tiefer
liegende
Ursachen und schwelende Gefahren ernsthaft zu diskutieren, das Andere.
Wann bitteschön haben
Sie in der Schule gelernt, dass es gefährlich sei, Vorurteilen und
Klischees zu folgen? Wann hat man Ihnen gesagt, dass Sie jeder
Ungerechtigkeit
widersprechen müssen? Hatten Sie solche Lehrer? Dann waren Sie
glücklich.
Ich jedenfalls habe - auch in meinem Antifaschisten-Kreis - vor allem
die
These erlebt: "Wer nicht für uns (die Kommunisten) ist, ist gegen
uns!"
Ich habe in der DDR selbst
Biografien über Antifaschisten geschrieben. Was glauben Sie, was
man
da alles rausgestrichen und schönredigiert hat, um ja das heile,
heroische
Bild nicht zu beschädigen.
Beide Seiten hatten ihre
Ideologien. Ich aber beschäftige mich mit meiner. Es geht dabei
durchaus
um das demokratische Warnsystem. Wenn es das gegeben hätte,
wäre
die Demonstration am 4. November, wären all die Wende-Forderungen
nicht nötig gewesen.
Die Stelle "über Juden
auch nur zu reden" ist - zugegeben - ein wenig irreführend. Ja,
man
konnte über Juden reden. In der "Berliner Zeitung" gab es sogar
eine
Serie über "Juden in Berlin". Ich muss eingestehen, hier zu kurz
geschrieben
zu haben. Aber selbst dieser Kürze stimmten manche zu, die als
Juden
in der DDR aufgewachsen sind. Sie spürten nämlich, dass sie
nicht
offen reden konnten über Widersprüche, die sie erfuhren.
Viele Grüße
Torsten Harmsen"
Ich:
"Sehr geehrter Herr
Harmsen,
Ihre eMail liest sich schon
ganz anders als Ihr Artikel im Feuilleton der Berliner Zeitung.
Vielem, was sich hier schreiben
kann ich schon zustimmen, z.B. auch der These, dass in der DDR alles
von
der Klassenkampfthese überdeckt wurde. Ich stimme Ihnen auch zu,
dass
wir in der Schule einseitig ideologisch ausgerichtet wurden, man kann
auch
sagen zu kommunistischen Dogmatikern erzogen werden sollten. Aber, das
kann ich für mich und die meisten meiner Klassenkameraden sagen,
es
war in unserem Falle nicht von Erfolg gekrönt. Die Besonderheit in
der DDR war das Aufwachsen zwischen zwei Ideologien. Nach dem
Pflichtunterricht
"Staatsbürgerkunde" haben wir uns die Alternative in der
Tagesschau
angesehen. Dadurch ist es uns möglich gewesen, uns doch kritisch
mit
allem auseinanderzusetzen und uns eine eigene Meinung zu bilden, die
sich
deutlich von der der SED, aber auch von der aus dem Westen propagierten
unterschied. Durch diese Polarisierung der Nachrichten und diese
Wiedersprüchlichkeiten,
so möchte ich behaupten, waren wir im Osten eher poltisch
interessierter
und informierter als die satte Masse im westlichen Wirtschaftswunder.
Wir
haben es gelernt, die Wahrheit selbst zu erkunden und festgestellt,
dass
sie meist dazwischen liegt.
Dies wollte ich mit meinem
Leserbrief deutlich machen. Ich wehre mich dagegen, dass die Ossis oft
als politische Nullen dargestellt werden, weil sie 40 Jahre in einer
Diktatur
gelebt haben. Die Diktatur hat nie eine Streitkultur in der DDR
entstehen
lassen, aber den Geist hat sich eher geschärft.
Viele (versöhnliche) Grüße
Jens Gerlach"
Herr Harmsen:
"Sehr geehrter Herr
Gerlach,
...
Danke für Ihre Reaktion.
Gewiss haben Sie Recht, dass die Ossis keine politischen Nullen
sind.
Aber da ich nur über eine Denkstruktur geschrieben habe, wirkt das
jetzt leider so. Ich übrigens gehörte zu jenen wenigen in der
DDR, die vom Elternhaus her nicht mit dem Westfernsehen in
Berührung
kamen. Der relativ scharfe Ton meines Artikels hat also auch etwas mit
dem
Abwenden von der ehemals
eigenen Ideologie zu tun. Ich befürchte eher Angriffe von der
anderen
- noch immer kommunistischen - Seite. Dazu hat es auch schon Briefe
gegeben,
der Art: "Gegen uns richtet sich die ganze Heuchelei natürlich,
gegen
die Kommunisten und ihre wissenschaftliche Weltanschauung". Dass wir
denken
gelernt haben, zeigt meines Erachtens auch, dass wir uns eben selbst in
Frage stellen können. Ich hoffte, das mit den letzten beiden
Absätzen
- über die selbständig zu neuen Fragen findende Generation -
angedeutet zu haben. Aber es reichte wohl offensichtlich nicht.
Dabei bin ich ja stolz auf
die eigene demokratische Leistung der Ostdeutschen und habe schon
einige
Male darüber geschrieben.
Viele Grüße
Ihr
Torsten Harmsen"